?Bauopfer“ der Kathedrale von Chur, Kanton Graubünden (CH). Funde aus Geb?uden des Mittelalters und der Neuzeit
Projektleiter: Prof. Dr. Ingolf Ericsson
Projektmitarbeiter: Iris Nie?en, B.A.
Laufzeit: 2013–2014
Im Dachgescho? der Kathedrale von Chur (Kanton Graubünden) wurden w?hrend der Restaurierungsarbeiten 2006 insgesamt 218 Objekte aus den Gerüstbalkenl?chern geborgen. Es handelt sich ausschlie?lich um organisches Material, dass durch die klimatischen Bedingungen sehr gut erhalten und teilweise mumifiziert ist. Neben zahlreichen Rinderknochen mit Schlachtspuren fanden sich unter anderem auch Ziegen- und G?msenfü?e sowie Katzensch?del.
Die Funde wurden in Kooperation mit dem Arch?ologischen Dienst Graubünden im Rahmen einer Masterarbeit durch Iris Nie?en bearbeitet.
Zu Beginn der Arbeit wurde ein ?berblick zum Aberglauben geboten, um in die allgemeine Problematik einzuführen. Zur Eingliederung in den Gesamtkontext wurden die verschiedenen Fundgattungen aus Geb?uden vorgestellt. Hierbei wurden Verwahr-, Versteck- und Verlustfunde sowie Abfallentsorgungen, Baubestandteile und Nachgeburtsbestattungen n?her erl?utert und ihre unterschiedlichen Kriterien hervorgehoben. Der Terminus Funde aus Geb?uden wurde bewusst gew?hlt, da dieser sowohl Funde aus Ausgrabungen, zum Beispiel im Bereich des Fundaments, wie auch Funde ?oberhalb der Grasnarbe“ (Vgl. Stadler 2005, 34) einschlie?t. Dem ?Bauopfer“ wurde in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Nach Vorstellung der Forschungsgeschichte konnte eine allgemeingültige Definition erarbeitet werden:
?Bauopfer“ ist als ?berbegriff für Deponierungen im Bereich von Geb?uden zu verstehen, die sich positiv auf das Bauwerk, und dadurch auch auf den Menschen, auswirken sollen. Da die konkrete Intention anhand der Objekte und Befunde nur selten zu erschlie?en ist, umfasst der Begriff Gaben an eine g?ttliche oder allgemein übersinnliche Macht ebenso, wie magische und symbolisch wirkende Objekte. Derartige Niederlegungen k?nnen sowohl w?hrend der Errichtung des Geb?udes, wie auch w?hrend der Nutzung und bei Umbauphasen eingebracht werden. Dem Fundort innerhalb des Geb?udes kommt h?ufig eine weitergehende Bedeutung zu. Abgrenzend zu anderen Deponierungen, wie beispielsweise niedergelegte Votivgaben, steht beim ?Bauopfer“ der direkte Bezug zum Geb?ude im Vordergrund. Das Ph?nomen des ?Bauopfers“ ist weder regional noch zeitlich oder auf bestimmte Funktionen eines Geb?udes beschr?nkt.
Eine Deutung als ?Bauopfer“ erscheint aufgrund des ungew?hnlichen Fundmaterials zun?chst naheliegend. Dennoch ist nicht gekl?rt, ob die Funde einmalig nach Fertigstellung einer Bauphase in die Gerüstl?cher gelangten oder ob es sich um eine Praxis über einen l?ngeren Zeitraum handelt. Bei Ersterem k?nnten die Funde tats?chlich als sogenannte ?Bauweihgaben“ angesprochen werden. ?ber die Datierung mittels C14- Analysen sollen so nicht nur das Alter der Fundkomplexe ermittelt, sondern auch die Interpretation als ?Bauopfer“ empirisch untermauert werden. Fertiggestellt wurde die Kathedrale in Chur im Jahr 1275.
Die Interpretation von ?Bauopfern“ ist schwierig, da es sich meist um Zufallsfunde mit den damit verbundenen quellenkritischen Problemen handelt. Zur Untersuchung der Objekte sollten demnach zun?chst alle zur Verfügung stehenden Informationen gesammelt und systematisch sortiert werden. Die in der Forschung g?ngigen Deutungsmodelle stützen sich noch immer auf die Einteilungen von Satori nach Sühneopfer, Abwehrzauber, Schutzgeist und Sympathiezauber (Vgl. Satori 1898). Diese sind allerdings sehr theoretisch, zumal davon ausgegangen werden muss, dass für die meisten Deponierungen deutlich einfachere Erkl?rungen anzunehmen sind.
Die Kathedrale St. Mari? Himmelfahrt in Chur wurde 1272 geweiht. Sie geht auf verschiedene Vorg?ngerbauten zurück, die bis in die Zeit der Bistumsgründung reichen. Bereits w?hrend der Restaurierung in den 1920er Jahren wurden im Hauptschiff verschiedene Fundobjekte aus Balkenl?chern geborgen, die den Beschreibungen zu Folge dem Material aus dem Dachgescho? sehr ?hnlich sind. Im Zuge der jüngsten Restaurierung wurde 2004 der Turmknopf ge?ffnet. In diesem befand sich ein Depot, das nach dem Brand 1811 bei Neuerrichtung des Turms 1829 angelegt wurde. Dieses fand Eingang in die offiziellen zeitgen?ssischen Protokolle und steht damit im Gegensatz zu den nicht überlieferten Deponierungen im Hauptschiff und im Dachgescho? der Kathedrale.
Die Funde aus dem Dachgescho? der Kathedrale wurden w?hrend der Restaurierung im Jahr 2006 aus den Gerüstbalkenl?chern geborgen. Da diese nicht verschlossen waren, k?nnen die Objekte nicht als ?geschlossene Fundkomplexe“ angesprochen werden. Es wurden 218 Funde mit einem Gesamtgewicht von 7463,17 Gramm, von denen 84,86% Tierknochen sind, bearbeitet. Neben diesen fanden sich verschiedene Tiererzeugnisse, Tierhautreste, Textil, Papier sowie Seile und Schnüre. Auff?llig ist mit 50,81 % des Tierknochenmaterials ein ?berwiegen von Extremit?ten, die meist im fleischlichen Verband niedergelegt wurden. Die 14C-Datierung ergaben einen zeitlichen Schwerpunkt im 16. Jahrhundert sowie einen im 18. und 19. Jahrhundert. Der ?ltere Bereich deckt sich zeitlich mit einem ?hnlichen Depot aus St. Nicolai in Chur, w?hrend die meisten Vergleichsbeispiele ins 19. Jahrhundert weisen. Demnach ist bei den Deponierungen im Dachgescho? der Kathedrale vermutlich mit einer Mehrphasigkeit zu rechnen. Es ist wahrscheinlich, dass der Gro?teil der Objekte nach dem Brand 1811 eingebracht wurde. Die Niederlegung k?nnte entweder durch die Handwerker oder die ortsans?ssigen Kapuziner erfolgt sein. Die m?glichen Gründe für die Deponierungen sind vielf?ltig. In Anbetracht des Brandes 1811 ist ein Abwehrzauber oder aber eine magische Handlung zur Festigung des Geb?udes wahrscheinlich.
Vergleichsbeispiele verdeutlichen, dass die ?Bauopfer“ aus der Churer Kathedrale in dieser Region kein Einzelfall sind. Aus der Stadt Chur stammen Vergleiche aus dem ehemaligen Kloster St. Nicolai, aus St. Luzi und aus einem Wohnhaus in der Sennhofstra?e. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnten zus?tzlich weitere fünf Beispiele aus dem Umland aufgenommen werden. Diese stammen aus der Kapelle St. Luzius in Siat, aus der Kirche St. Mari? Himmelfahrt in Sagogn sowie aus Profangeb?uden in Fürstenau, Felsberg und Tiefencastel. Bei diesen ist ein deutlicher zeitlicher Schwerpunkt im 19. Jahrhundert zu verzeichnen. Des Weiteren ist auff?llig, dass h?ufig Extremit?ten von Hausschaf, Hausziege und G?mse deponiert wurden. Dies scheint für die Region Graubünden typisch zu sein und deckt sich mit dem Fundmaterial der Kathedrale St. Mari? Himmelfahrt in Chur.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die ?Bauopfer“ aus der Churer Kathedrale sowohl in ihrer Zusammensetzung, aber vor allem in ihrer Menge, bisher einmalig sind. Der Forschungsstand zu der hier vorgestellten Problematik ist noch sehr gering, sodass weitere Grundlagenforschung und Regionalstudien n?tig sein werden, um sich dem Ph?nomen ?Bauopfer“ weiter anzun?hern.
Die vorgestellte Thesis wurde als Masterarbeit an der Universit?t Bamberg bearbeitet und vom Arch?ologischen Dienst Graubünden unterstützt. Mit Hilfe arch?ologischer Methoden, der detaillierten Aufnahme des Fundmaterials und des Fundortes, Analogieschluss und analytische Datierungsverfahren, wurde das Material bearbeitet sowie interdisziplin?r die Bauforschung und Europ?ische Ethnologie miteinbezogen.
Text: Iris Nie?en
Zeitungsbericht im Bündner Tagblatt(570.0 KB, 2 Seiten)
Publikationen
Nie?en 2014
I. Nie?en, ?Bauopfer“ der Kathedrale von Chur, Kanton Graubünden (CH). Funde aus Geb?uden des Mittelalters und der Neuzeit. Unpubl. Masterarbeit, Bamberg 2014.
Nie?en 2015a
I. Nie?en, Magie und Zauber in der Kirche? Bauopfer aus der Churer Kathedrale. Arch. Graubünden 2, 2015, 23?–52.
Nie?en 2015b
I. Nie?en, Aberglaube in der arch?ologischen Forschung – Anmerkungen zur RURALIA XI Tagung in Clervaux, Luxemburg. Blog Archaeologik (05.10.2015). – https://archaeologik.blogspot.com/2015/10/aberglaube-in-der-archaologischen.html
Nie?en 2017
I. Nie?en, Building sacrifices and magical protection. A study in canton of Grisons (CH). In: Ch. Bis-Worch/C. Theune (Hrsg.), Religion, cults & rituals in the medieval rural environment. Ruralia XI (Leiden 2017) 325–335.