Evangelische Kirche: Armut in Deutschland ist ein Skandal
Bischof Huber legt erstmals Denkschrift zu sozialen Verh?ltnissen vor
Ruf nach mehr Geld für Bildung und Chancengleichheit
von Gernot Facius
Welt 12. Juli 2006 – im Internet schon am 11. Juli
Berlin - Wenn der Staat wirklich etwas gegen Armut tun will, mu? er den Armen nicht nur Unterstützung zahlen, sondern in ihre Bildung investieren und Arbeit schaffen. So lautet die Kernforderung der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Armut in Deutschland. Bei der Vorstellung sagt der Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber: "Armut in einem reichen Land ist mehr als nur eine Herausforderung, sie ist ein Skandal."
Das Papier ist das erste seiner Art in der Geschichte der EKD.
Auf 80 Seiten mahnt die evangelische Kirche eine engere Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik an. Die M?glichkeiten, die Deutschland zur Verfügung stehen, um nachhaltig vor Armut zu schützen, sind nach den Worten Hubers historisch gesehen "enorm". Trotzdem steige die Zahl der Menschen, die unter materieller Not leiden. Gleichzeitig n?hmen versteckte Formen von Armut zu, die ein weiteres "Armutsrisiko" produzierten. Nach aktuellen Statistiken betr?fe das fast jede siebte Person. Aus ethischer Sicht sei es deshalb notwendig, nicht nur extreme materielle Armut, sondern auch Armut im Sinne unzureichender Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entschlossen zu bek?mpfen, erkl?rte Huber.
"Gerechte Teilhabe" definiert die EKD-Denkschrift als "umfassende Beteiligung aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen". Im Bereich Bildung sieht der Rat der EKD den "derzeit gr??ten Handlungsbedarf". Ein neuer Geist der Wertsch?tzung und der Beteiligung müsse die im Bildungssystem vorhandenen Tendenzen zur Ausgrenzung überwinden. "Nur so kann das Problem der Arbeitslosigkeit nachhaltig angegangen werden." Da jedoch auch durch gesteigerte Qualifizierung auf absehbare Zeit die Arbeitslosigkeit nicht überwunden werden k?nne, stelle das Ziel der Teilhabe aller an bezahlter Arbeit keine Alternative zur Besch?ftigungsf?rderung von geringer bezahlten Arbeitspl?tzen dar. Die evangelische Kirche befürwortet in dem Papier derartige Instrumente, fordert jedoch gleichzeitig, den Niedriglohnsektor "so klein wie m?glich" zu halten. ?ffentlich gef?rderte Arbeitspl?tze stellten hier eine sinnvolle Alternative dar.
Die Familienpolitik wird von den Verfassern der Denkschrift ebenfalls als wichtiges Steuerungselement beschrieben. Sie pl?dieren unter anderem für einen kostenlosen Zugang zu Kindertagesst?tten, um die Situation von Familien zu verbessern. Das EKD-Papier h?lt ausdrücklich fest, da? Deutschland zu den Gewinnern der wirtschaftlichen Globalisierung geh?re. Man müsse allerdings ein zunehmend h?heres Qualifikationsniveau haben, um auch pers?nlich die Früchte der Globalisierung ernten zu k?nnen, sagte der Vorsitzende der EKD-Kammer für soziale Ordnung, Professor Gert G. Wagner. Das beste Bildungssystem k?nne nicht verhindern, da? es Verlierer gebe. Denen müsse durch "monet?re Transfers" geholfen werden. "Man kann den Transfer-Staat nicht einfach durch einen "investiven Sozialstaat" ersetzen. Man kann lediglich dafür sorgen, da? der Sozialstaat st?rker als bislang als vorsorgender Sozialstaat agiert", mahnte Wagner, unter dessen Vorsitz die Denkschrift zustande gekommen ist. Um die H?he dieser Transfers müsse immer gerungen werden, denn man k?nne aus der Bibel nicht ableiten, "wie hoch der Sozialhilfesatz sein sollte". Das gelte auch für den Ruf nach einem "dritten Arbeitsmarkt". Die EKD h?lt eine solche Ma?nahme "angesichts des Elends von Hunderttausenden von Langzeitarbeitslosen für notwendig". Wichtig sei auch, da? der Anteil der Steuerfinanzierung an der sozialen Sicherung zunehmen sollte.