Kommentierte Lesung mit Diskussion von Dr. Marko Fuchs und Dr. Arndt Lainck (Universit?t Bamberg)

?2666 von Roberto Bola?o: literarisches Kreisen als philosophische Auseinandersetzung mit dem B?sen?

?ffentliche Lesung der Fr?nkischen Gesellschaft für Philosophie e.V. in Zusammenarbeit mit der Professur für Romanische Literaturwissenschaft / Hispanistik Bamberger Vortr?ge zur Lateinamerikanistik

Bamberg, am Mittwoch, 27. Januar 2016.

Marko Fuchs, Vorsitzender der Fr?nkischen Gesellschaft für Philosophie, und Arndt Lainck, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Romanische Literaturwissenschaft/Hispanistik, spürten in ihrer Lesung der Frage nach, inwiefern sich ein Roman eignen kann, der philosophischen Frage nach dem B?sen nachzugehen. Nach einer kurzen Einführung in den Aufbau und die Hauptthematiken von 2666 (2004) von Roberto Bola?o, lasen die Vortragenden jeweils abwechselnd exemplarische Passagen aus dem umfangreichen Werk vor. Dem zahlreichen Publikum sollte so bereits vor der sich stets anschlie?enden Kommentierung der Textstellen Gelegenheit geben werden, sich selbst einen Eindruck darüber zu verschaffen, wie Bola?o einen direkten Reflexionsprozess über die allgegenw?rtigen Diskursstrukturen des B?sen in Gang setzt.

In den repr?sentativen Ausschnitten, die das Publikum auch an die Wand projiziert mitverfolgen konnte, wird das B?se zwar nie allzu direkt benannt oder gar offen angeklagt, aber dennoch sichtbar als gesellschaftliche Praktik des Verschweigens, als Strategie des Ausblendens oder der Umdeutung des Leids anderer. Der erste Ausschnitt machte dies anhand von einer im Roman dargestellten Gruppe von Germanisten deutlich, die in London einen unfl?tigen pakistanischen Taxifahrer zusammenschlagen. Als dieselbe Gruppe etwas sehr ?hnliches in Mexiko mitansieht, nehmen sie die Tracht Prügel, die ein mexikanischer Taxifahrer einstecken muss, als etwas v?llig Fremdes und Barbarisches war, ohne es mit ihrem eigenen Verhalten in Beziehung setzen zu k?nnen. Durch derart blinde Flecken lie?e sich an mehreren Charakteren im Roman immer wieder ablesen, wie die gefühlte Gruppenzugeh?rigkeit wesentlich das Verhalten, die Wahrnehmung und anschlie?ende Rationalisierungsstrategien der Protagonisten bestimmt.

Auch anhand des zweiten Beispiels konnte man erkennen, wie in der Diskursstruktur des B?sen, sprich wie und ob man überhaupt das Leid anderer thematisiert, gewisse ?bel einfach bem?ntelt und ausgefiltert werden. Der Ausschnitt handelte von einem Kriminologen, der sich mit einem jungen Mann über die Ursachen der Frauenmorde in Santa Teresa an der amerikanisch-mexikanischen Grenze unterh?lt. Das Gespr?ch kreist um historische Beispiele kleiner Gesellschaften aus dem neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert, in denen nur Morde an Menschen, die zu den Mitgliedern der bestehenden Gesellschaften gerechnet wurden, für gro?e Schlagzeilen sorgen konnten. Andere aber wiederum wurden einfach unter den Teppich gekehrt: ?[…] hier übten sich die Worte eher in der Kunst der Verschleierung als in der Kunst der Enthüllung.? Die Zeugnisse fremden Leidens wurden und werden also wohl noch oft systematisch als belanglos eingesch?tzt und nicht im ?ffentlichen Diskurs repr?sentiert, solange sie nur weit weg genug von der eigenen sozialen Gruppe gesehen werden.

Ein weiterer Ausschnitt erz?hlte von den frauenfeindlichen Witzen der Polizisten in Santa Teresa, also jener Berufsgruppe, die die Frauenmorde eigentlich aufkl?ren soll, die das gro?e ungel?ste R?tsel in 2666 ausmachen. Die Polizisten werden so nicht nur als Teil des Problems dargestellt, sondern es lie?en sich auch Betrachtungen anstellen, ob solche Witze nur idealer N?hrboden für die Gewalt gegen Frauen ist oder schon ein Relikt einer ungew?hnlichen Sichtbarkeit des B?sen in solchen Diskursenklaven darstellt.

Der l?ngste Ausschnitt handelte vom nationalsozialistischen Verwaltungsapparat in Oberschlesien und einem hohen Verwaltungsbeamten, der eine Zugladung griechischer Juden erh?lt, die eigentlich in Auschwitz h?tte landen sollen. Nachdem er sich zun?chst vor dem Auftrag drückt, sich der Juden irgendwie zu entledigen, trommelt er die n?tigen Funktion?re im Dorf zusammen, um sie diskret in seinem Plan zu unterweisen, die Juden in einer Schlucht verschwinden zu lassen. Alle eingezogenen Helfer im Dorf sind zun?chst unwillig, sich selbst am n?chsten und müssen für Ihre Pflichterfüllung bestochen werden. Als die Leichen in der Schlucht nicht mehr alle Platz finden, werden die Gehilfen angewiesen, schlicht woanders zu graben: ?Denken Sie daran, es geht nicht darum, zu finden, sondern darum, nicht zu finden.? Das B?se solle so, literarisch umschrieben, als sein eigener Repressionsmechanismus greifbar werden und die Gr?ueltaten k?nnen schlussendlich zu einem administrativen Erfolg erkl?rt werden, der wieder Ordnung hergestellt hat.

Ein ums andere Mal wurde anschaulich, dass Bola?o sich dem B?sen vor allem als diskursivem Ph?nomen n?hern wollte. Ob und über wessen Leid in 2666 gesprochen wird, scheint sich in den vorgestellten Beispielen immer an den verspürten Gruppenzugeh?rigkeiten der Protagonisten zu orientieren, die ihre Loyalit?ten st?rker gewichten als ihren Impuls, sich gegen ihr Umfeld zu stellen, um nicht Eigeninteressen zu gef?hrden. Schnell wurde ein Unterschied beobachtbar zwischen den vorgegebenen und anerkannten Werten, dem Schutz m?glichst aller, und der Praxis, die eben doch das Leiden bestimmter nicht der eigenen Gruppe zugeh?rigen Personen stillschweigend unterprivilegiert. Die Unsichtbarkeit des B?sen schuldet sich bei Bola?o so letztendlich einem banalen Sanktionsmechanismus, der dem Schutz der eigenen Gruppe dient.

In der anschlie?enden Diskussion bemerkte Prof. Dr. Christian Sch?fer treffend, dass ihn die Auslegung des Romans an Nietzsche erinnere, der bereits Moral als Semantisierung sozialer Ressentiments in Frage gestellt hat.

 (von Karolina Wusatowski, Januar 2016)